Recherchen, Text und aktuelle Bilder: Aldo Lardelli
Dieser interessante Beitrag in der Reihe Faszination Universum mit Harald Lesch, erstmals ausgestrahlt im Oktober 2019 bei ZDF Terra X, berichtet ausführlich über den Einfluss der Sonne auf die Erde.
Eine kurze Szene zeigt Johann Rudolf Wolf, den Gründer und ersten Direktor der Sternwarte des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich, wie er mit "seinem" Refraktor die Veränderungen der Sonnenflecken beobachtet und zu deuten versucht. Der Merz/Kern-Refraktor, "sein ganzer Stolz", wurde 1864 ausgeliefert. Im Beitrag aber erkennt man ein Cassegrain Reflektor Teleskop. Das damals verwendete Instrument befindet sich seit vielen Jahren im Depot der Sammlung Kern im Stadtmuseum Aarau.
Nachdem die Sternwarte Zürich 1982 aufgelöst wurde, kam der Refraktor zu Kern nach Aarau, wo er fachmännisch überholt und restauriert wurde. Dort verblieb er vorläufig, gelangte ins Inventar der Studiensammlung Kern, wurde mehrmals umgelagert und landete schliesslich 2009 demontiert im erwähnten Depot.
Über den heutigen Zustand und die Vollständigkeit gibt es keine Hinweise. Zahlreiche, aufschlussreiche Dokumente, wie Bilder, Briefe und Rapporte befinden sich aber in unserem Archiv. Wir bemühen uns damit die bewegte Geschichte dieses einmaligen Instrumentes aufzuarbeiten.
Möchten Sie uns dabei behilflich sein? Wir freuen uns auf Ihre Hinweise. Sie erreichen uns über Kontakte.
Vielen Dank.
Im Copierbuch III, in dem die gesamte ausgehende Post der J. Kern Aarau von Juni 1861 bis September 1862 festgehalten wurde, findet sich auf der Seite 212 ein Schreiben an Professor Rudolf Wolf. Im Eintrag vom 19. Dezember 1861 macht Jakob Kern ein ausführliches Angebot, ein Devis, mit zwei Vorschlägen, Bedingungen und Garantien. Der 1. Vorschlag:
"Parallactisch montirter Refractor in Grösse und Construction gleich demjenigen der Sternwarte in Neuenburg. Objectiv von 6 Zoll Parisermass Oeffnung, 8' Brennweite, sechs astronomische Okulare von 52, 85, 127, 192, 288 und 456 maliger Vergrösserung, fünf Micrometerokularen von 128-480 maliger Vergrösserung, darunter ein Ringmicrometer Sucher von 19 Linien Oeffnung. Den ganzen optischen Teil aus dem Institut von Merz, Utzschneider & Fraunhofer in München. ...".
Bezog sich Professor Wolf bei seiner Anfrage an Kern auf den Refraktor, der für Professor Adolphe Hirsch, 1859 in der Sternwarte Neuenburg, mit der Optik von Merz in München installiert wurde?
Im noch ältesten verfügbaren Preis-Courant von 1878 findet man den Refraktor in vergleichbarer Ausführung unter der Nummer 245 auf der Seite 15 und der Tafel X.
Im 2. Vorschlag wurde der Refraktor mit der Optik von C. A. Steinheil in München angeboten. Trotz des günstigeren Preises entschied sich Professor Wolf für den Refraktor mit der Optik von Merz. In der Dissertation von Jürgen Kost Wissenschaftlicher Instrumentenbau der Firma Merz in München, Hamburg 2014, findet sich neben dem Hinweis zum Refraktor (Tubus B), auch jenen zum Meridiankreis (Tubus A). Ausserdem findet man dort unter den Firmenschriften mehrere Hinweise zu den von Merz angebotenen 6 Zoll Refraktoren: Verzeichnis von 1878.
In einem Rapport vom 9. März 1867 beschreibt Professor Dr. Rudolf Wolf die Vorzüge der neu installierten astronomischen Fernrohre an der Sternwarte Zürich. Er vergleicht den Refraktor und den Meridiankreis von Kern Aarau mit den Angeboten "aus den renommiertesten mechanischen Werkstätten Deutschlands". Er kommt zum Schluss, dass seine Wahl die richtige war und lobt wie geschickt Herr (Emil) Kern auf seine gewünschten kleinen Abänderungen eingegangen ist.
Im Jahr 1864 wurde der Merz/Kern-Refraktor in der Hauptkuppel der Sternwarte des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich installiert und vom damaligen Direktor Prof. Dr. Johann Rudolf Wolf sogleich in Betrieb genommen. Über viele Jahrzehnte beobachtete und zählte er damit die Sonnenflecken und registrierte täglich deren Veränderungen. Zu seinem weiteren Arbeitsbereich gehörte der Zeitdienst mit der Regulierung der öffentlichen Uhren. Dabei spielte der Merz/Kern-Meridiankreis eine wichtige Rolle.
Alfred Wolfer bewarb sich 1876 als Assistent bei Prof. Wolf. Er wurde 1894 sein Nachfolger und leistete beeindruckende Forschungen bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1926. Sein Leben und sein Wirken wurden in der Ausgabe 128 der Astronomischen Mitteilungen ausführlich gewürdigt.
Das nebenstehenden Bild erhielten wir von Bart Fried, dem Gründer und ehemaligen Präsident der Antique Telescope Society in den USA, er schreibt dazu:
I am happy to give this original photographic print of the refractor of the Semper Observatory in Zurich. I think it shows Professor Wolfer seated. I received this photo from a friend who was an amateur solar observer, Alan Daroff (1944-2021) of Philadelphia, PA, USA. He received it from the estate of Harry Barlow Rumrill (1867-1951), a well-known solar observer near Philadelphia, who produced counts continuously for 33 years. He sent his numbers to Zurich and his contribution still helps Prof. Leif Svalgaard (Stanford University, Stanford CA, US) with his sunspot research. I can not confirm it, but I suspect the print must have been a gift to Rumrill from someone at Semper Observatory - possibly Prof. Wolfer. Now it's a return gift that comes full circle.
Nach Wolfer wurde 1926 William Brunner zu seinem Nachfolger als Direktor der Sternwarte und Professor der Astronomie gewählt. Die Kontinuität der Zürcher Relativzahlreihe bei der Erhebung der Sonnenflecken blieb bei diesem Wechsel gewahrt. Nach seinem Rücktritt im Jahr 1945 widmete sich Brunner literarischen Arbeiten. Die Forschung überliess er seinen Assistenten, darunter dem im Jahre 1936 eingetretenen Max Waldmeier. Neben der Weiterführung der Beobachtung der Sonnenflecken leistete er Pionierarbeit in der Erforschung der Sonnenkorona. Er veranlasste 1936 den Bau des Höhenobservatoriums in Arosa, wo er mit dem Kern-Koronagraphen die Atmosphäre der Sonne beobachten und erforschen konnte. Von 1945 bis 1980 war er Direktor der Sternwarte und Professor an der ETH Zürich.
Über mehr als 150 Jahre schreibt die Semper Sterwarte Zürich Geschichte: mit der beindruckenden Architektur und den herausragenden Leistungen der dort von 1862 bis 1980 forschenden Professoren.
In der Ausgabe vom 15. Februar 1980 berichtete die Neue Zürcher Zeitung unter dem Titel Abschied von der Eidgenössischen Sternwarte über die Einstellung des Betriebs auf den 1. April 1980. "Vor allem wird auf die Sonnenfleckenbeobachtung, in der Zürich Pionierarbeitet geleistet und weltweit Anerkennung gefunden hat, in Zukunft verzichtet".
Prof. Max Waldmeier, der letzte Leiter der Sternwarte Zürich, trat im Herbst 1979 in den Ruhestand. Er machte sich Sorgen um den Bestand der astronomischen Geräte, die fortan nicht mehr gebraucht würden. In seinem Brief vom 26.4.1980 an die Firma Kern in Aarau bat er die Direktion eindringlichst, sich um den Erhalt "ihrer" Instrumente zu kümmern.
Der Merz/Kern-Meridiankreis, im Einsatz bis 1960, wurde 1967 demontiert und landete 1980 in einem Magazin im Hauptgebäude der ETH. Im September 1981 wurde er zusammen mit anderem Instrumentarium nach Aarau überführt. Es kommt zu einer bemerkenswerten Vereinbarung: Die Firma Kern kann die Instrumente übernehmen (Brief vom 15.9.1981). Der Meridiankreis wird restauriert und 1982 im Lichthof des 1967 erstellten Verwaltungsgebäudes im Schachen Aarau aufgestellt. Als Gegenleistung übernimmt Kern die Renovation des Merz/Kern-Refraktors (Brief vom 24.9.1981).
Der Abbau des Refraktors erfolgt im August 1982 durch die Kern-Mitarbeiter Hermann Meier und Erwin Häfliger. Mit Schreiben vom 12.12.1984 erhielten sie den Auftrag des Technischen Kundendienstes (sig. F. Haas/ P. Kern) zur "Instandstellung dieses historisch wertvollen Instrumentes". Sie beendeten die Renovation 1985 und erstellten die Schlussabrechnung am 9.5.1985 im Betrag von Fr. 18'588.-.
Seine Rückführung nach Zürich verzögerte sich. Die Kuppel der Sternwarte musste saniert werden. Mit der Bemerkung: "Bis die Renovierung der Kuppel durchgeführt sein wird, ist es besser, wenn der Refraktor bei der Firma Kern aufbewahrt wird" (Brief vom 30.6.1982). Damit war das weitere Schicksal des Instrumentes besiegelt. Es verblieb bei Kern bis 1988. Nach der Übernahme von Kern durch die damalige Wild Heerbrugg AG gelangte die historische Sammlung im August 1988 als Schenkung an das Stadtmuseum Aarau, mit dabei der Merz/Kern-Refraktor und der Merz/Kern-Meridiankreis, beide von
"J. Kern Aarau" 1864 geliefert an die Eidgenössische Sternwarte Zürich.
Zur Eröffnung der Sammlung Kern in einer renovierten Zivilschutzanlage in unmittelbarer Nähe des Stadtmuseums Aarau kam es erst 2009. Zuvor musste das Sammlungsgut mehrmals umgelagert werden.
Erinnerte vielleicht der vorliegende Hinweis auf unserer Webseite daran, dass der Kern/Merz Refraktor noch immer im Depot des Stadtmuseums Aarau eingelagert ist? Nachdem er 1982 in Zürich abgebaut, bei Kern in Aarau revidiert und schliesslich zerlegt und in Kisten verpackt wurde, wäre er beinahe in Vergessenheit geraten.
Eine Anfrage an den Leiter des Stadtmuseums Aarau, Marc Griesshammer, schlug ein neues Kapitel zur Geschichte des Kern/Merz-Refraktors von 1864 auf. Frau Dr. Dorothea Zimmermann, von der Sammlung wissenschaftlicher Instrumente und Lehrmittel der ETH Zürich äusserte den Wunsch, die Kisten mit dem zerlegten Refraktor in Aarau zu besichtigen.
Diese Besichtigung fand am 1. Juni 2023 statt. Mit dabei war als Experte der Astronom Dr. Thomas K. Friedli, Präsident der Rudolf Wolf Gesellschaft. Die Öffnung der Kisten, Schachteln und das Auspacken der vielen Bestandteile war für alle Anwesenden höchst spannend: Ist alles vorhanden, in welchem Zustand und ohne Lagerschäden?
Das Fazit der Sichtung ist höchst erfreulich. Alle Bestandteile sind vorhanden. Trotz mehreren Umlagerungen ist das Instrument komplett und weist keine gravierenden Schäden auf. Selbst der 2,5 Meter lange Fernrohrkörper aus Holz (!) befindet sich in einwandfreiem Zustand.
Damit sind die Voraussetzungen erfüllt, dieses historisch einzigartige Instrument in der Semper-Sternwarte in Zürich aufzustellen und der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen.
Bis zum 21. August 2023 stand in der Hauptkuppel der Sternwarte ein Zeiss-Coudé, ein 150mm Achromat mit 1950mm Brennweite. Er wurde abgebaut und nach Arosa ans AOT transportiert. Dort soll er bis zum Jahresende in der kleinen Kuppel wieder aufgebaut werden.
Am 28. August 2023 war es soweit. Nachdem Edgar Koch und Armin Estermann vom Technischen Dienst des Stadtmuseums Aarau alle Bestandteile des Refraktors verpackt und gesichert palettiert hatten, wurden sie nach Zürich transportiert. Dort hiefte ein Schwerlastkran die Paletten mit den diversen Kisten samt dem Refraktorsockel auf die Terrasse der Sternwarte oder direkt in die Kuppel des Observatoriums.
Im Rahmen des Projektes Bestände der Baukultur ETH Zürich wurde Ende August das historische Fernrohr in die Hauptkuppel der Semper-Sternwarte zurückgebracht. Der Refraktor ging 1982 nach Einstellung des Forschungsbetriebs zurück an die Firma Kern in Aarau. Dort wurde er mit grossem Aufwand fachmännisch restauriert und im Depot des Stadtmuseums Aarau zwischengelagert.
Am 1. September 2023 wurde mit dem Aufbau des Kern/Merz-Refraktors begonnen. Als Experte konnte dazu der Astrophysiker Dr. Thomas K. Friedli gewonnen werden, der selber als einer der letzten am astronomischen Institut der Sternwarte der ETH geforscht hatte.
Vom mehrtägigen Aufbau hat die ETH ein Zeitraffer-Video drehen lassen und auf YouTube ins Netz gestellt.
In seinem Devis (Angebot) vom 19. Dezember 1861 an Prof. Dr. Rudolf Wolf erwähnte Kern den Refraktor am Observatorium Neuenburg. Dieser wurde am 10. Dezember 1859 an Prof. Dr. Adolf Hirsch, dem Leiter der Kantons-Sternwarte Neuenburg ausgeliefert. Gefertigt wurde er bei der Firma Merz in München, die eine grosse Erfahrung im Bau astronomischer Geräte hatte und bereits ab 1826 die Observatorien weltweit mit Refraktoren, Astro-Objektiven, Meridiankreisen, Heliometer, Kometensucher und vieles mehr belieferte. Zu den Kunden gehörten zwischen 1835 und 1882 auch Werkstätten und Händler, darunter auch "Kern in Aarau".
Das Copierbuch III enthält mehrere Briefe an Prof. Dr. Adolf Hirsch von 1861 bis 1862. Emil Kern berichtet darin über seine Besuche bei der Firma Merz in München und verabredet sich mit Hirsch in Neuenburg, zwecks "Copierens" des dortigen Refraktors für die Eidgnössische Sternwarte in Zürich.
In einem kürzlich gefundenen Rapport, datiert am 9. März 1867, rechtfertigte sich Prof. Wolf für seinen Entscheid, dass er den Refraktor und den Meridiankreis bei Kern Aarau und nicht bei den "renommiertesten mechanischen Werkstätten Deutschlands" fertigen liess.